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  • AutorenbildLaura Ritter

80 sind die neuen 100

Genauer gesagt: 80% sind die neuen 100%.


Na klar, wir sind alle total leistungsfähig, belastbar und stressresistent. Erfolg im Job ist uns wichtig, wir sind gut ausgebildet und wollen mit unserer Ausbildung etwas bewirken. Noch dazu sind wir im besten Alter – zwischen 30 und 40 – da werden Karrieren gemacht. So ist das. Und doch stellen wir gerade fest, dass von uns sieben „High Potentials“, die wir hier gemeinsam ein Wochenende an der Ostsee verbringen, um uns von unseren stressigen Alltagen zu erholen, nur zwei Vollzeit arbeiten. Warum ist das so? Zwei haben kleine Kinder, von denen er natürlich auch etwas haben will und sie selbstverständlich nicht die ganze Arbeit alleine machen möchte. Also beide 80%. Eine moderne Familie. Die anderen beiden machen das einfach so für sich. Für mehr Lebenszufriedenheit, Work-Life-Balance, weniger Stress, bessere Gesundheit, mehr Sport und weil der Job ohnehin nicht die Erfüllung ist, die sie sich während des Studiums darunter vorgestellt hatten. Doch irgendwie muss das Geld ja reinkommen, dann eben so. Auch das ist Kapitalismus, auch das ist Marktwirtschaft: Wir verkaufen nur so viel unserer Zeit wie notwendig. Minimalprinzip statt Maximalprinzip. Geringster Input statt maximaler Output. Eine weitere Frau aus der Gruppe hat sich schon vor einer Weile von ihrem 9-to-5-Job, naja sind wir ehrlich, es war eher ein 9am-to-10pm-Job getrennt und sich selbstständig gemacht. Ob sie das dauerhaft tragen wird, weiß sie noch nicht, aber sie will es probieren. Sie genießt die freie Zeiteinteilung, sie genießt es, im Sommer mittags eine Stunde auf der Terasse zu verbringen, sie genießt es, sich selbst, ein gesundes Mittagessen zu kochen. Wie viel sie arbeitet, 100%, 80% oder doch 120%? So genau kann sie das nicht sagen, denn es variiert stark. Aber gefühlt sind es nicht mehr als 80%, so im Schnitt und im Vergleich zu früher, sagt sie. Tja, bleiben ein anderer Mann und ich mit der klassischen Vollzeit. Er sagt, er fände das schon gut, aber das mit der Teilzeit gehe bei ihm nicht. – Wieder so ein Totschlagargument, das nach dem Gegenbeweis schreit. Und ich? Na, ich würde lieber heute als morgen zurück zu meiner 4-Tage-Woche, die ich über viele Jahre hatte – ganz ohne Kinder oder Pflegefälle, einfach nur für mich – und für die ich in der gleichen Freundesgruppe noch vor 3-4 Jahren belächelt wurde. So ändern sich die Zeiten. Nach einem Jobwechsel dachte ich allerdings, ich müsse erstmal „normal“ arbeiten, meine Leistungsbereitschaft bewiesen und unausgesprochene Erwartungen erfüllen. Vollzeit also. Das klare Resume unserer illustren Runde lautet: „80% sind die neuen 100%“. Doch wieso soll das eigentlich „normal“ sein mit den 40 Stunden? Ein Blick in die Geschichte, ein Blick in andere Branchen, ein Blick in die Welt zeigt – nein, es ist nur ein aktuelles Phänomen, keine allgemeine Grundregel. In einigen Branchen wird schon jetzt weniger gearbeitet, in anderen Zeiten wurde dagegen deutlich mehr gearbeitet und in anderen Teilen der Erde sind die Arbeitsverhältnisse oft ohnehin ganz andere. Wir leben im Zeitalter der Individualisierung, warum entscheidet also nicht jeder selbst, welchen Anteil des eigenen Lebens er oder sie für Erwerbsarbeit verkaufen möchte. Denn wir verkaufen in einem Arbeitsvertrag Zeit und eben nicht Leistung, das muss man sich immer wieder vor Augen führen. Es hat sich schon viel getan, gerade in den letzten Jahren: Immer mehr Arbeitgeber machen Teilzeit auf Wunsch möglich und Teilzeit heißt immer seltener 50%, stattdessen gibt es alle erdenklichen Arbeitszeit-Modelle. Gleichzeitig – und das muss man sich auch bewusst machen – ist es ein Luxus, diesen Gedanken von der Wunschteilzeit überhaupt haben zu können. Denn wer sich mit Mindestlohn über Wasser hält, für den bleibt die Arbeitszeitreduzierung ein unerfüllbarer Traum, den er oder sie sich kaum leisten kann. So traurig es ist. Von diesem Gedanken ist es nicht mehr weit zu einem anderen: Würden viele Menschen in Teilzeit arbeiten, langfristig, für immer vielleicht sogar – könnte das auf der anderen Seite dazu führen, dass Löhne sinken, um Menschen zu zwingen, wieder mehr zu arbeiten, Produktivität zu steigern und gleichzeitig Kosten zu reduzieren?

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